Der erste entscheidende Wanderprediger in meinem Leben war ein „gescheiterter“ Realschullehrer in der Pfalz. Nicht nur gewesener Realschullehrer, sondern gewesener atheistischer Religions-Realschullehrer. Endgültig unmöglich geworden für die Schulverwaltung, als er lehrte, dass Marihuana weniger schädlich sei als Nikotin, was ja stimmt.
Wanderprediger haben offiziell wenig zu sagen und aus eigener Kraft mordsviel mitzuteilen.
Sie entwickeln eine gute Portion von dem, was unter dem Namen Charisma bekannt ist ? suchende und offene Seelen sind dafür empfänglich.
So scharte er den suchenden und offenen Teil der Gymnasialjugend um sich und hatte stets allerhand mitzuteilen, was dieser ganz neu und erstaunlich erschien: Wie die Liebe zu pflegen sei (frei!), warum Hubschrauber am Himmel fliegen (Verfassungsschutz!), was von Rentnern, Hausmeistern, Eltern und Lehrern zu halten ist (nichts: im Zweifelsfall und besonders bei entsprechendem Geburtsdatum: alles Nazis), warum man manchmal Angst hat (liegt am Kapitalismus!) und vielerlei bemerkenswerte Antworten mehr, kaum hatte man die Frage erahnt. Und auch auf scheinbar ganz unwichtige Fragen, die aber ganz wichtig waren, gab es eine Antwort: Wie kocht man Linsensuppe für 50 Personen? Wie immer: Mit Tomaten, viel Kabanossi und noch viel mehr Knoblauch. Äh: und dosenweise, kiloweise Linsen, natürlich. Was gibt´s im Zweifelsfall zu trinken: ein 50:50-Gemisch aus Schwarztee und Pfefferminztee. Punto. Basta.
Was den Wanderprediger ausmacht ist: Es gibt auf alles eine definitive Antwort. Er ist in sogenannten Kleinigkeiten wie einer Linsensuppe so bewandert und positioniert wie in den Großigkeiten, sagen wir mal dem Kapitalismus.
Ich darf an dieser Stelle mal sagen, dass ich exakt niemand kenne, dem der Wanderprediger und die durch ihn bewirkte Aufklärung geschadet hat, es sei denn, man war zu sehr unter der Fuchtel von Eltern und Lehrern ? die zu einem nicht gerade unerheblichen Teil eine satansähnliche Verführergestalt in ihm erkannten und bekämpften. Er galt abwechselnd oder gleichzeitig als schwul, pädophil, Drogendealer, Kommunist – und war nichts davon. Noch nicht mal Kommunist: Er erklärte uns, was an der Grünen Partei so prima sei (hab ich vergessen).
Ich hatte meine Zweifel an ihm, aber die waren ganz anderer Natur. Wenn er sich verliebte, und das war sympathischer- und unterhaltsamerweise nicht gerade selten der Fall, war von FREIER Liebe nichts mehr zu hören, sondern er rechnete dem nicht erreichbaren Wesen alle möglichen Fehler auf, weswegen es nicht erreichbar sei. Junge Frauen, die der freien Liebe huldigten, nicht wegen seiner Predigt, sondern einfach so, hatte er im Verdacht, sich zum Objekt zu machen. Hatte man selbst Liebeskummer, so vermerkte er gleichwohl, man habe zuviel Besitzansprüche. Es war nicht so richtig logisch. Dann hatte er uns irgendwie Marx nahe gebracht und wollte uns anschließend aufs ökologische Blümchengießen einschwören. Und das mit den Hubschraubern (s.o.) konnte ich ihm auch nicht abnehmen.
Der gefürchtete Satan der pfälzischen Kleinstadt war in Wirklichkeit ein etwas korpulenter, bärtiger Aufklärer, der aber eine einfache Mission erfüllte und die auch nie veränderte. Er machte immer das und sagte immer das, was er immer machte und sagte. Ob es die Linsensuppe betraf oder den Kapitalismus. Während die Gymnasialjugend entweder die Lust verlor oder sich irgendwann schlauer und bedeutender wähnte.
Fortsetzung folgt.
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